Die St. Sebastianus-Bruderschaft von 1441 St. Wendel

Bruderschreiber Gerd Schmitt (2013)

 

Wie vielerorts im Mittelalter üblich, wurde im Jahr 1441 auch in der Stadt St. Wendel eine Bruderschaft gegründet.

Wichtigstes Motiv zur Gründung solcher Bruderschaften war die allgemein vertretene Ansicht, es sei vernünftig und richtig, als Vorsorge für die Ewigkeit und das eigene Seelenheil sich mit anderen zusammenzutun, um gemeinschaftlich fromme Übungen zu leisten und mit den gemeinsam erbrachten Spenden die Armen zu unterstützen. Man beging Hochfeste, Patronatsfeste, Taufen und Beerdigungen gemeinsam und leistete sich in Zeiten der Not gemeinsame materielle Hilfe. Getragen wurden diese Ideen vorwiegend von Vertretern des Handwerks; so ist es auch zu erklären, dass die Bruderschaften ähnlich wie die Zünfte organisiert waren, ja dass mitunter zwischen Zünften und Bruderschaften kaum ein Unterschied gemacht wurde. Jede Form menschlichen Zusammenlebens war stark religiös ausgerichtet; alle Lebensläufe waren eingebettet in eine festgefügte Ordnung, der die christliche Religion ihr äußeres Gepräge und innere Stabilität verlieh.

 

In St. Wendel bildete sich 1391 die Schumacherzunft, ein Mischwesen aus Handwerkerorganisation, Versicherungsanstalt und religiösem Verein – eine Zunft, die ursprünglich für die Schuster, Gerber und Kürschner gedacht war, die aber auch Geistliche, Angehörige des niederen Adels und Mitglieder anderer Gewerbe  aufnahm. Das bis heute erhaltene Mitgliederbuch gibt davon Kunde.

 

Sehr stark wurde das religiöse Denken durch die Armenfürsorge beherrscht. Der Arme war in besonderer Weise der Bruder Christi. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ wurde mächtiger Ansporn zur Wohltätigkeit. Der Arme gehörte zu einem „vollkommenen Stand“, der allein schon durch sein Armsein dazu berufen war, gute Werke auszulösen und durch sein Gebet dem Almosenspender seinerseits zu Hilfe kam.

 

In der Pest- und Hungerzeit von 1440/41 muss in St. Wendel die Not so groß gewesen sein, dass die bisherigen Einrichtungen der sozialen Absicherung und der Armenpflege als unzulänglich empfunden wurden. Die im Jahre 1441 gegründete Bruderschaft war ein erneuter, und – wie durch mehr als ein halbes Jahrtausend erwiesen – segensreicher Versuch zur Linderung harter leiblicher Not. Und da mit leiblicher immer auch seelische Bedrängnis einherzugehen pflegt, erschien es durchaus sinnvoll, wenn die Mitglieder neben der materiellen Unterstützung sich auch gegenseitigen Beistandes im Gebet versicherten. In aller Kürze heißt es in der Chronik über die Gründung: „Im Jahr als man schreibt nach der Geburt Christi Unsers Herrn thausend vier hundert viertzig und Ein Jahr ist die gesellschaft undt Bruderschaft St. Sebastians gestiftet und angefangen worden“. Als Patrone wählte man den hl. Märtyrer Sebastianus, der als Schutzheiliger gegen die Pest in hoher Gunst beim frommen Volke stand. Weiterer Patron war der hl. Papst und Märtyrer Fabian, der als römischer Bischof die Armenfürsorge organisiert hatte. Beide Heiligen haben ihr Fest am 20. Januar.

 

Seit 572 Jahren hat die St. Wendeler St. Sebastianus-Bruderschaft auf ihrer religiösen und caritativen Grundlage bis heute alle Zeiten und Stürme überstanden.

 

Da die Mitgliederverzeichnisse der Bruderschaft erhalten sind, sind wir auch über die ersten Mitglieder unterrichtet; für die ersten 40 Jahre ihres Bestehens weist die Liste 81 Namen aus. Wenn auch niemand genau sagen kann, wer am Sebastianstag des Jahres 1441 der Gründungsversammlung beigewohnt hat, so kann man doch über den Personenkreis, der in den ersten vier Jahrzehnten das Leben der Bruderschaft bestimmt hat, einige Angaben machen.

 

Als erste Mitglieder sind drei Geistliche verzeichnet: die beiden Altaristen Heintzelman und Lecker sowie „Johan der alte Pfarher“ (Pfarrer Johann Schwarz). Es folgen die Junker Henne Harstbaum von Liebenberg, damals Burgmann des Trierer Erzbischofs in St. Wendel, und Johann von Schwarzenberg, Schultheiß. Neben weiteren Angehörigen von Adelsgeschlechtern nennt das Verzeichnis viele Bürgerliche, die später in der Stadt zu hohen Ämtern aufstiegen, etwa den Hochgerichtsschultheißen Conradt Feylbecker, den Kirchenschöffen Clauß von Kürweiler und die Gerichtsschultheißen Peter Grebe und Ruwen Cleßgin. Handwerker sind reihenweise verzeichnet: Schneider, Töpfer – damals Aulner genannt – Siebmacher, Sattler, Schlosser, Schmiede, Müller und Büttel.

 

Sie alle, hoch wie niedrig, schlossen sich in der „gesellschaft undt Bruderschaft St. Sebastians“ zusammen. Die Notgemeinschaft umfasste alle Stände, alle sozialen Schichten. So war es immer, so ist es bis heute geblieben. Elitär war die Bruderschaft nie.

 

Stark vom Zunftwesen geprägt war die Form, in der die Bruderschaft sich konstituierte, Ebenso die Satzungen und Bruderschaftsregeln, die sie sich gab, und das innere Leben, das seit ihren Anfängen Jahrhunderte hindurch herrschte. Allerdings fehlte der Bruderschaft der ökonomische Charakter, und gewerbliche Bestrebungen schieden völlig aus, denn sie diente rein religiösen und caritativen Zwecken. Satzungsgemäß gehörte zu ihren Obliegenheiten die Erhöhung des öffentlichen Gottesdienstes. So ist es auch zu erklären, dass nicht nur Handwerker, sondern alle Stände sich ihr anschließen konnten.

 

Die vom Bruderschreiber Ferdinand Molitor, einem St. Wendeler Schulmeister, im Jahre 1613 niedergeschriebenen „gesetz und regel gemelter Bruderschafft“ enthalten u.a. die folgenden Bestimmungen: „Item ist man einmündtlich zue rath worden, daß ein ieglicher so in der Bruder undt gesellschaft ist, oder darin kommen wirdt, der solle Järlich uff St. Sebastianstag vier pfennig zue der gesell undt Bruderschaft in die Büchß dem Meister geben, damit die Bruderschaft zu handt haben...

Item ein ieglicher Bruder dieser gesell undt Bruderschaft soll uff St. Sebastianstag in der Kirchen sein, in der Messen sein opfer thun nach seinem vermögen, und die gesell und Bruderschafft helffen halten und folvirren, alß fern er daheim ist...

Item ein ieglicher Bruder der in der gesellschafft oder der Bruderschaft ist oder kommen wirdt, der soll nach der Messen in eines wirdts haus da(s) der meister bestellen wirdt kommen, darin gesellschafft helffen halten, und außrichten waß dan in der gesell und Bruderschafft von nöthen ist...“

 

Das kirchliche Leben griff stark in das Leben der Bruderschaft ein; die Regeln und Satzungen entbehren nicht eines religiösen Tons, und die gesellige Unterhaltung ist dem religiösen Anliegen nachgeordnet.

 

Die brüderliche Treue sollte sich auch beim Tode eines Mitgliedes bewähren. So wurden sämtliche Mitglieder durch einen Beschluss von 1657 angehalten, den Verstorbenen zu Grabe zu geleiten und durch Gebet und Opfer für das Seelenheil des Heimgegangenen zu sorgen: „... wenn ein Mitbruder oder schwester durch den zeitlichen Dott heimgesucht und von dieser betrübten Welt abgefordert wirt, daß dann... alle in der Kirchen erscheinen, und mit St. Sebastians-Fahne Lichtern und den priesteren, zu des abgestorbenen Behausung, und von dannen mit der Leichen zum grab, und Gott den Allmächtigen vor dessen seel inbrünstig helfen bitten...“

 

Die Satzungen und Bruderschaftsregeln wurden mehrfach ergänzt und erneuert und den Veränderungen des Lebens angepasst. So hat die Bruderschaft die Form gefunden, die bis auf den heutigen Tag ihr Leben und ihren Sinn bestimmt.

 

Einmal im Jahr blüht die Bruderschaft auf, wenn sich am Tag der Patrone Sebastian und Fabian, dem 20. Januar, die Mitglieder versammeln, um mit der Bruderschaftsfahne dem Gottesdienst für ihre lebenden und verstorbenen Mitglieder beizuwohnen. Nach dem Gottesdienst und während des Tages trifft man sich auch heute noch im so genannten „Vaterhaus“, welches der Brudermeister bestimmt. Man blättert in den alten Schriften, die das Jahr über in der „Zunftlade“ verwahrt werden, und sucht die Namen der in den alten Dokumenten verzeichneten Ahnen. Wichtiger Ausdruck der Zugehörigkeit zu dieser Solidargemeinschaft der Stadtbürger ist eine Spende für die Armen in der Höhe des eigenen Ermessens. Während in früheren Zeiten ein Teil des eingegangenen Geldes für Verzehr der Brüder ausgegeben wurde, werden seit dem Jahre 1844 alle Beträge in voller Höhe zugunsten unterstützungsbedürftiger Personen in der Stadt verwendet. Die Verteilung erfolgt durch den Bruderrat, ohne dass die Empfänger irgendwo genannt oder bekannt gemacht werden. Der Bruderrat besteht aus dem Brudermeister, dem Bruderknecht, dem Bruderschreiber und derzeit fünf Bruderratsmitgliedern.

 

Die St. Sebastianus-Bruderschaft von 1441 hält sich in ihrem Leben und Wirken an die Absichten ihrer Gründer: Verehrung Gottes und Unterstützung der Armen. Die Regeln und Satzungen werden – zwar modifiziert – bis heute geachtet und gelebt. Die Bruderschaft ist seit über 100 Jahren überkonfessionell – es gehören ihr nicht nur Mitglieder katholischen Bekenntnisses an –  ;dies hat jedoch zu keiner grundlegenden Veränderung des Bruderschaftsbrauchtums geführt. Das heute etwas stärker betonte soziale Anliegen der Bruderschaft nötigt auch jenen Mitbürgern Achtung ab, die zum sonstigen kirchlichen Leben nicht in enger Beziehung stehen. Verschämte Armut und akute Notlage braucht man auch heute in der so genannten Wohlstandsgesellschaft nicht zu suchen, zumal die jüngste Entwicklung im Wirtschaftsleben die Zahl der Bedürftigen eher anwachsen lässt. Hier findet die Sebastianus-Bruderschaft ihre Aufgabe.

 

Zur Zeit hat die Bruderschaft  320 Mitglieder. Die Zahl schrumpft infolge der demografischen Entwicklung sichtlich. Es sterben deutlich mehr Mitglieder als neue sich einschreiben lassen. Dennoch ist der Bruderrat guten Mutes. Seit nunmehr 572Jahren hat die Bruderschaft Not- und Elendszeiten in der Vaterstadt durchgestanden: Pestepidemien, Missernten, Großbrände, Belagerungen, Plünderungen, Beschießung und Bombenangriffe, Hungerzeiten – Heimsuchungen aller Art mussten die Einwohner über sich ergehen lassen. Jede Zeit stellte ihre Aufgaben, die die Brüder im Geist der Eintracht und Nächstenliebe zu bewältigen suchten. Dieser brüderliche Geist lebt – auch heute noch.

 

Uns Heutigen ist aufgegeben:

Das Gelöbnis der Vorfahren zu achten, die Tradition in den Familien zu pflegen und die heranwachsende Generation mit dem Vermächtnis der Ahnen vertraut zu machen.

Auf diese Weise wird auch in Zukunft jene Quelle helfender Liebe nicht versiegen. So kann Segen von der Bruderschaft ausgehen wie seit alter Zeit.